Rezension – Das Glück des Schmetterlings beim Fliegen – Barbara Imgrund

07.07.2018 16:32

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Kurzbeschreibung

Marie hat per Notkaiserschnitt ihren Sohn tot zur Welt gebracht und kann keine weiteren Kinder bekommen. Fiebrig mäandert sie durch die Tage im Krankenhaus. Nachts, in ihren Albträumen, wird sie von einem dämonischen Schmetterling in den Abgrund getrieben. Schließlich bricht mit der Operationswunde auch die Verlassenheit wieder auf, die sie seit ihrer Kindheit begleitet: „Ich bin die, die übrig bleibt.“
Ihr Heil sucht Marie auf dem Friedhof gegenüber. Ein Glück, dass es dort viel lebendiger und launiger zugeht, als man meinen sollte – die Menschen, denen sie begegnet, sind ebenso gestrandet wie sie, sie haben nichts mehr zu verlieren. Doch schon bald spürt Marie, dass etwas nicht stimmt. Es ist, als hätten Rose und Adrian, Siegfried und Gretel schon viele Jahre auf sie gewartet. Und allmählich dämmert ihr, dass ein gemeinsames Schicksal sie alle aneinander fesselt ...

Erscheinungsdatum: 22. Juni 2018

Seitenzahl der Printausgabe: 202

Verlag: Books on Demand; Auflage: 1 (22. Juni 2018)

ISBN-13: 978-3752803303

ISBN-10: 3752803304

Hier gehts zum Buch: BoD / Barbara Imgrund

Ich habe das vorliegende Buch als Presseexemplar zur Besprechung von der Autorin selbst erhalten. Lieben Dank an dieser Stelle. Dieser Umstand hat keinen Einfluss auf meine Bewertung.

Angaben zum Autor

Barbara Imgrund ist im Allgäu aufgewachsen und hat in München Germanistik studiert; neben dem Studium absolvierte sie eine Ausbildung zur Schwesternhelferin. Nach einigen Jahren als Lektorin in verschiedenen Münchner Verlagen hat sie sich 1998 als Lektorin, literarische Übersetzerin und Autorin selbstständig gemacht. Sie lebt und arbeitet heute in Heidelberg.
Ehrenamtlich engagiert sie sich für Mensch und Tier, hat in Namibia als Volontärin in der Raubkatzenforschung gearbeitet, besucht regelmäßig mit ihrem Hund als ausgebildetes Besuchshundeteam eine Heidelberger Palliativstation und ist als Hospizbegleiterin tätig.

Rezension – Manche Begegnungen finden nur im Herzen statt, deswegen sind sie aber nicht weniger wahr!

In »Das Glück des Schmetterlings beim Fliegen« begeben wir uns mit Marie auf eine Seelenreise, aus dem tiefsten Abgrund des eigenen Ichs (hoffentlich) zurück in das Leben. Marie muss Schreckliches durchleben. Sie bringt ihr Kind tot zur Welt, und wird davon in einen Abgrund gerissen, den man sich kaum vorstellen mag. Sie wird von Fragen geplagt, auf die es keine Antworten gibt. Von Gefühlen übermannt, die man keinem wünscht und die doch auch irgendwie Teil des Lebens sind. Sie verliert ihren Platz in ihrer Welt, ihren Lebensgrund, fragt sich über allem, warum sie die eine ist, die übrig bleibt, wenn doch das Leben nicht mehr ihres scheint. Als wäre das alles nicht schlimm genug, erfährt sie, dass ihr Leben nie wieder die Chance darauf bekommt, weiteres Leben zu schenken. Jedenfalls nicht in dieser Form. Das heißt, ein kleiner entrückter Trost, eine winzige Hoffnung, nach einer langen Phase des Schmerzes wieder zu gesunden, zerspringt erst mal. Am liebsten würde Marie vor allem fliehen, es ist ihr infolge einfach alles zu viel. Die Stimmen der anderen, das gut gemeinte Beistehen, der Verlust an sich, das Leben – einfach alles. Es ist zu laut, zu viel und doch fühlt sie sich allein. Marie wird von Träumen geplagt. Ein gelber Schmetterling ruft nach ihr, doch sie versteht ihn nicht. Sie findet keinen Weg aus ihrem Schmerz und flüchtet sich in ihrer Trauer und Wut auf einen Friedhof. Den Ort des Todes. Und dort erkennt sie, dass er voller Leben steckt. Voller Geschichten. Voller Menschen, denen es so geht wie ihr. Voller Verstehen, und damit – so unglaublich es auch scheint: Voller Menschen mit Hoffnung. Der Friedhof als Parabel des Lebens.

Aber: Marie verschließt sich in dieser Zeit auch, vor allem dem einen Menschen, der ihr eigentlich nahe steht und ihren Schmerz teilt. Sie schottet sich ab, schließt ihn aus. Und ein Wir zerbricht zunächst daran. Sie ist nicht allein in ihrem Schmerz, doch fühlt sie so. Der Weg zur Selbstreflexion dauert. Und kostet sie mehr als gedacht.

  • Doch was kostet es sie genau?
  • Kann Marie ihr Leben wieder wirklich lebenswert leben oder zerbricht sie für immer an dem schlimmsten Schmerz der Welt?
  • Wie fühlt sie in dieser Zeit und gibt es Hoffnung, wenn alles dunkel scheint?
  • Kann Liebe zum Leben am Ende siegen, oder sind manche Wunden einfach zu groß?
  • Findet es selbst heraus.

Das vorliegende Buch mag zwar an Seiten dünn erscheinen, doch ist es an Inhalt groß, tief greifend, bewegend und wichtig. Es schildert einen Weg an Lebenslektionen. Ist für mich ein Seelenbuch, das zeigt, wie zerbrochen ein Mensch sein kann. Wie es in ihm wirklich aussieht, was wir im echten Leben nie sehen. Dort erkennen wir nur einen Bruchteil und labeln schnell mit falschem Selbstmitleid ab. Auch Marie erkennt das im Verlauf der Geschichte, sieht, dass sie sich erst selbst helfen kann, wenn sie die Trauer akzeptiert, sich aber nicht mehr mit Selbstmitleid und unbeantwortbaren Fragen im Weg steht. Doch alles hat eben seine Zeit, so auch das Begreifen und Verarbeiten. Und diese Zeit verläuft bei jedem unterschiedlich. Marie ist für mich eine starke Protagonistin mit Fehlern, wie jeder welche von uns hat, die letzten Endes genau die im Buch beschriebene Zeit gebraucht hat. Kein Leben verläuft gerade. Oft sind es die Menschen, denen wir unbewusst begegnen, die wie ein Schlüssel funktionieren, der verschlossene Türen öffnet, damit wir die Zusammenhänge wieder verstehen können. So ging es mir mit den Friedhofspassagen, die noch die ein oder andere Begegnung der besonderen Art mehr bereithalten. In dieser Hinsicht bin ich Marie nicht unähnlich. Ich habe aber seit jeher zu Friedhöfen ein sehr inniges Verhältnis und habe sie schon immer aufgesucht, wenn ich innere Ruhe brauchte und ein Zurechtrücken meines Seins. Nicht erst nach meinem persönlichen Verlust. Macht das Sinn?

»Vielleicht wird man ja wunderlich, wenn man so viel Zeit auf dem Friedhof verbringt. Man gewöhnt sich an den Tod […] Es ist ein bisschen wie geborgte Ewigkeit.«

Barbara Imgrund hat hier eine Geschichte geschaffen, die eine unglaubliche Eigenkraft des Lesers erzeugt und animiert: zu hoffen, den Weg zur Hoffnung nie aufzugeben und die schweren Zeiten durchzustehen. Aus dem Schreibstil der Autorin sprudelt ob des düsteren Themas pure Lebensenergie zum Leser. Die Geschichte ist wie ein kleiner Schub des Krafttankens, Zurechtrückens von Prioritäten, verschobenen Ansichten und Prinzipien, ein Erkennen, dass manche Abschiede unerklärbar hingenommen werden müssen und das Leben weitergehen wird. Ob man will oder nicht. Der Wille und die Hoffnung finden ihren Weg zurück, wie ein Schmetterling sein Glück schon durch das Fliegen erfüllt. Kleine Info über mich: Immer wenn ich auf dem Friedhof bin und einen gelben Falter sehe, stelle ich mir vor, dass es unser Würmchen ist, dass uns so seit 2011 doch irgendwie weiterbegleitet. Es ist nur eine andere Form, ein anderer Quell des Lebenswillens.

Ich kann der Prota zum Teil in der Geschichte so sehr nachempfinden, da ich ja pers. durch eine ähnliche Erfahrung musste. In jungen Jahren, wenn auch nicht auf ganz diese furchtbare Art und Weise wie Marie, so doch mit demselben intensiven Verlust und einhergehenden Herzschmerz.

Daher hat mich diese Geschichte so tief bewegt und etwas in mir angerührt, das lange für mich verschlossen war. Es ist ein weiteres Abschiednehmen und der Wunsch, wirklich nach vorne zu schauen, der aus diesen Zeilen in mein Herz springt. Dabei ist es so rein, so wahr.

Am Anfang ist man wie gelähmt, erinnert sich in meinem Fall, wie es damals war, und es trifft es so punktgenau. Mit dem einen Unterschied, dass mein Mann und ich stets eine Einheit blieben, und einen gemeinsamen Weg gefunden haben. Ich weiß aber auch, dass diese Form von Glück im Unglück eben nicht jedem vergönnt ist.

Man fragt sich nach dem Warum, warum man zurückbleibt, warum ein Leben vorbei ist, bevor es wirklich leben durfte, und wie man damit für den Rest seines eigenen Daseins umgeht.

Der Ton von Marie und ihrer Geschichte ist dabei leise, aber deswegen nicht weniger stark. Der Schreibstil zeugt von einer bildhaften Eleganz, die das Geschriebene flüssig transportiert und weiterträgt. Fast poetisch, klangvoll und voller Hoffnung auch in dunklen Zeilen. Wenn man nur genau hinliest. Die Autorin fängt die Stimmung Maries und ihrer zunächst unbewussten Suche zurück ins Leben, dem Greifen nach dem besagten Schmetterling in jeder Zeile ein, gestaltet sie durch passende Worte, hüllt sie in ein ausdrucksstarkes Kleid, dass sich um das Leserherz legt. Sie macht dabei das Sinnbild der Trauer zum Anker der Hoffnung. Ein kalter Ort erstrahlt voll Wärme. Davor habe ich großen Respekt.

Zudem gibt es einen Wechsel zwischen märchenhaftem und schonungslos ehrlichem Erzählen. Ein Gleichgewicht im Ungleichgewicht des Lebens, das mir im Schreiben Imgrunds sehr gefallen hat. Manche Begegnungen finden eben nur im Herzen statt, deswegen sind sie aber nicht weniger wahr! Was ich damit meine, solltet ihr aber unbedingt selbst durchs Lesen erfahren. Es lohnt sich, wenn ihr offen für diese schwere und doch energiegeladene Geschichte seid.

Wie schon gesagt: Es ist für mich eine Geschichte, die mich tief bewegt, lange in mir rührt und mich sicher so schnell nicht loslässt. Die mich lehrt: Es gibt nicht den einen richtigen Weg, das Leben ist so mannigfaltig wie wir Menschen selbst. Was für den einen funktioniert, klappt mitnichten für alle. Doch wir alle können unseren Weg finden.

 

Eure Jil Aimée