Rezension – Neun Tage – Toni Jordan

03.08.2015 17:36

Rezension – Neun Tage – Toni Jordan

Kurzbeschreibung

Neun Tage, neun entscheidende Momente im Leben einer Familie.

Es gibt Tage, die verändern das ganze Leben. Von neun dieser schicksalhaften Tage im Leben einer Familie erzählt Toni Jordan in ihrem preisgekrönten Roman. Alles beginnt mit dem jungen Kip, der mit seinen Geschwistern in einem heruntergekommenen Vorort von Melbourne aufwächst. An einem heißen Sommerabend trifft er die bezaubernde Annabel, eigentlich die Tanzpartnerin seines Bruders, doch an diesem Tag verlieben sie sich. Als Kip fünfzig Jahre später erfährt, dass seine Tochter Charlotte schwanger ist, weckt das in ihm Erinnerungen an einen anderen folgenreichen Tag im Leben seiner Familie: den Tod seiner geliebten Schwester. Ein unsichtbarer Faden verbindet ihr Schicksal mit dem von Charlotte, ein Faden, der erst im Geflecht der ganzen Familiengeschichte sichtbar wird. Kunstvoll führt Toni Jordan die Stränge zusammen und zeigt die verborgenen Kräfte, die eine Familie im Innersten zusammenhalten.

 

Erscheinungsdatum: 15. September 2014 (gebundene Ausgabe)

Übersetzt durch: Ulrike Wasel / Klaus Timmermann

Seitenzahl der Printausgabe: 272

Verlag: Piper (ISBN-13: 978-3492055963)

Hier gehts zum Buch: Piper / Amazon

 

Angaben zum Autor

Toni Jordan wurde 1966 in Brisbane geboren. Ihr erster Roman »Tausend kleine Schritte« war ein internationaler Überraschungserfolg. In Australien nominiert für den »Besten Roman des Jahres«, für den »Barbara-Jefferis-Award« sowie den »Preis der australischen Buchhändlervereinigung«, wurde er mit überwältigender Mehrheit als Bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet.

 

Rezension – Von Fotos, Münzen, Ketten und Blechdosen, die Dein Leben verändern

In ‚Neun Tage‘ geht es, wie der Titel schon vermuten lässt, um die Ereignisse von ganz bestimmten Tagen. Tagen im Leben der Familie Westaway. Westaway – Away in the West – verschwunden in der Kriegszeit und doch zusammengeführt. Ein überaus passender Name und dies gleich zu Beginn. Zum Inhalt selbst werde ich nicht viel preisgeben, da bereits die Kurzbeschreibung eine eindeutige Richtung vermuten lässt.

Die Geschichte beginnt mit dem kleinen Kip, der früh lernen muss sich gegen seinen stärkeren und schlaueren Zwillingsbruder Francis durchzusetzen in einer Zeit, in der die Familie von Armut und gravierenden Schicksalsschlägen getroffen wird und nur durch harte Arbeit (fast) aller ein Leben leben kann. Es ist eine Zeit, in der bereits eine kleine Münze die Welt für einen jungen Mann bedeuten kann.

„[…]Wenn wir den Weg einer einzelnen Münze nachzeichnen würden, […], würde sie uns mit allen möglichen Fremden verbinden.“

Eine Zeit, in der eine gestohlene Kette zum anmutigen Versprechen von Treue und Ehrlichkeit wird. Eine Zeit, die vom Krieg gebeutelt ist und jeden einholt. Egal ob Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.

Die Familie Westaway um Kip lebt in einem Armutsviertel Melbournes zur Zeit des zweiten Weltkrieges. Der Vater stirbt früh und ändert so das Leben seiner Frau und Kinder schlagartig. Nicht unbedingt zum Besten. Aber die Familie lernt schnell, was es heißt einen gewissen Zusammenhalt zu haben, der es ermöglicht einen über sämtliche Schicksalsschläge hinweg zu tragen. Für den Einzelnen scheint die Familie in solchen Fällen manchmal Hindernis, für das große Ganze aber Rückhalt und Rat zu sein. Man erfährt, wie Entscheidungen das eigene Leben und das der von ihnen Betroffenen zeichnen und umlenken können. Mit einem Tag, mit einem Atemzug kann das Leben vorbei sein oder in von Grund auf andere Richtungen gezwungen werden. Ein Schicksalsschlag treibt eine gesamte Familie in einfachste Verhältnisse zurück und einer kann nur auf Kosten vieler anderer erstrahlen, zahlt dafür aber auch später einen gewissen Preis des Alleinseins. So erging es zumindest Kips Zwilling für eine Weile. Was bleibt, ist sich mit dem Schicksal zu arrangieren, das Beste daraus zu machen.

  • Aber das kann es doch nicht gewesen sein, oder?

Das ist eine Frage, die sich an den ‚Neun Tagen‘ alle Hauptcharaktere stellen. Eine Frage, die sie dazu anspornt gesellschaftliche Konventionen oder familiäre Erwartungen und Auflagen zu sprengen und aus ihrem Schneckenhaus auszubrechen. Wie den Einzelnen dies gelingt, erzählt diese Geschichte auf wunderbar warmherzige und ergreifende sowie auch zugleich erschütternde Art und Weise. Dabei packt die Geschichte den Leser mit echt und greifbar wirkenden Dialogen und Charakteren, die sich vor dem Leserauge in lebendige Menschen verwandeln und einen Erzählzeitraum von ca. 7 Jahrzehnten wiedergeben.

„Wo immer du bist, […], meistens kannst du irgendwas finden, das dich glücklich macht. Du musst bloß nach einem Zeichen suchen.“

Pro Kapitel erzählt je ein Protagonist der (näheren) Familie Westaway aus seiner Perspektive einen einzigen Tag und die (Selbst-)Zweifel, den Neid, die Angst, den Verzicht, aber auch die Zuversicht und Liebe, die damit zusammenhängen. Und genau diese Tatsache macht das Besondere des Buches für mich aus, denn es liest sich erfrischend anders, emotional ergreifend und spannend ruhig zugleich. Das müssen keine Gegensätze sein. Viele verschiedene Standpunkte einer großen Geschichte, bestehend aus mindestens genauso wichtigen kleineren, werden dadurch visuell. Das ist das Leben. So wie jedes Kapitel ein anderes Leben beleuchtet, so variiert auch der Schreibstil der Autorin passend, fügt alles aber am Ende in ein harmonisches Ganzes ein, wie auch viele Leben eine Familie bilden. Als Leser entdeckt und fühlt man gemeinsam mit der Familie mit. Erst am Ende des Romans wird dem Leser die ganze Tragweite und Thematik der erzählten Familiengeschichte mit ihren schönen, aber vor allem auch unschönen Ereignissen bewusst. Es ist wie ein Puzzle, das sich mit jedem erzählten Tag stückchenweise weiter zusammensetzt. Und manchmal merkt man eben, dass ein Puzzleteil fehlt, weil der Mensch für den es steht gegangen ist. Dann muss die Erinnerung es wieder lebendig machen.

„Menschen, die fehlen, Menschen, die eigentlich auch hier wären und plaudern und leben und atmen würden.“

Aber:

„Wir sterben alle allein. […] So ist das nun mal.“

Dies erfordert natürlich eine gewisse Aufmerksamkeit des Lesers, macht es aber gleichzeitig umso ansprechender und bereichernder. Als roter Faden wird der Leser anhand einer Kette und einer Münze durch das unterschiedliche Erzählgeschehen der Neun Tage geleitet. Dinge, denen wieder wir Menschen die Bedeutung gegeben haben.

Eine Bedeutung, die einem schon bei dem, dem Anschein nach zunächst schlicht gehaltenen, Cover sofort ins Auge sticht. Neun Schneckenhäuser in einer Blechdose– neun Tage – neun Charaktere, die nach Außen auf den ersten Blick so gleich wirken und doch so verschieden sind. Ein jedes Schneckenhaus auf seine ganz eigene Weise. So entwickelt sich aus einem dieser Gebilde innerhalb der Geschichte der gebildete und kalt wirkende Francis zum gutmütigen und herzigen Onkel Frank. Und eine alte Blechdose, die im ersten Moment unscheinbar wirkt, wird selbst zum größten Schatz der Familie. Sie bekommt mit einem Griff, einem Blick Bedeutung, denn wir Menschen geben den Dingen ihre Bedeutung, erfüllen sie mit Leben. Hauchen ihr eine Geschichte ein – mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

„Liebesbriefe, vor einer Ewigkeit durch die Zeit verschickt.“

Es ist nicht nur eine Erinnerung, es sind neun Tage, es ist das echte Leben. Und genau das ist es, was diesen Roman für mich auszeichnet: Das echte Leben, wie es hätte sein können, inspiriert durch ein Foto. Und wer sagt, dass es vielleicht nicht genauso war? Das ist die große Literaturkunst. Der Grund warum ich lese. Eine Geschichte, für die ein simples Danke nicht genug ist, aber ausreichen muss. Es ist Gegenwartsliteratur, die über die Grenzen der Gegenwart hinaus erzählt. Auch, wenn das Buch an sich für meinen Geschmack etwas kurz und knapp gehalten ist, so zeigt es doch mit den unterschiedlichen Tabuthemen, die im Leben und der Geschichte Thema werden (Kriegsgrausamkeiten / Abtreibung / Standesdünkel, um nur eine Auswahl zu nennen) genau das, was tatsächlich passiert (ist). Sei es nun Fiktion oder nicht. Es hätte genauso laufen können.

 

Schlicht und ehrlich gehaltene Ereignisse in einer weniger gradlinigen Struktur, die die Geschichte nicht schreien, sondern auf ruhige und klare Weise faszinieren lassen. Vielen lieben Dank an den Piper Verlag für das Zusenden eines Rezensionsexemplars, das mir die Möglichkeit gegeben hat, mich von dieser besonderen Geschichte ergreifen zu lassen.

Eure Jil Aimée